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ZUM 1. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM 2. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM 4. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM 5. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM 6. TEIL DES TAGEBUCHS DER AKTUELLEN SAISON 2004 / 2005 ----
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ZUM TAGEBUCH DER SAISON 2001 / 2002
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FSV Mainz 05 - VfL Bochum 1:0 (20.11.2004)
Herbstsonne über Mainz in rauchbombenvernebelter Atmosphäre. Hat was!
"Erst steigen wir auf, dann wieder ab, und zwischendurch Uuuuuefa-Cup" - Phase 2 des Abstiegskampfs: "Vorzeitige Resignation"
Nur wo Thomas Ernst draufsteht, ist auch Mambo-Thommy drin!
Sauerei, Sinnlosigkeit, Schnauze. Voll.
Einfach nur ne Cola trinken.
Mit ein paar Freunden den Abend ausklingen lassen. Der "Schluckbecher",
ein kleines weißes Pappgefäß, eigentlich für Kaffee
gedacht, mit einem kleinen Henkel dran, hängt um meinen Hals, befestigt
mit zwei blau-weißen Kordeln. "Auf die Stockeligkeit von V.L." steht
drauf. Mein VfL-Schal ist noch so fest um meinen Hals gebunden, dass ich
zu ersticken drohe. Es riecht noch nach Rauchbombe. Der Schal sowieso und
mein Kopf auch. Er raucht. Zorn. Einfach nur ne Cola trinken, ein bisschen
unterhalten. Links über unserem Tisch hängt ein Fernseher. Eigentlich
läuft dort IMMER MTV, doch diesmal NTV. Mein Blick bleibt. Sport.
Die Bundesliga-Berichterstattung, die Tabelle. Tabellensechzehnter (in
Zahlen: 16.!) der VfL Bochum. Mit drei Punkten auf Kaiserslautern, und
fünf auf den enteilten Rest der Liga. Abgeschlagen nennt man so etwas.
Mein Magen blubbert. Der zornige Rauch und die Kohlensäure vermischen
sich zu einer explosiven Mischung und rasen kreuz und quer durch meinen
Oberkörper. Es nimmt mich heute richtig mit, ärgert mich. Nein,
nie wieder zweite Liga, das muss nicht sein. Gestern, in Trier, habe ich
mit meinem Bruder Thommy noch auf den Spielplan geguckt. Die zweite Liga
wäre im nächsten Jahr die Hölle, ich sags nochmal. Es ginge
in alle Ecken der Republik, nach Freiburg, Rostock, Burghausen, Aue, Unterhaching.
Und als NRW-Mannschaft nur noch der LR Ahlen. Der Bochumer Schauspieler
Uwe Fellensiek ("SK Kölsch") hat im Film "Wer braucht schon ein Sektfrühstück
bei Real Madrid?" (ihr erinnert Euch? Das ist der
Streifen, aus dem ich rausgeschnitten wurde) gesagt: "Weisse, absteigen,
dat is so als wenn du vonner Schule fliechs". Ich fühle mich, als
würden die zwei blauen Briefe mit der letzten Warnung schon in meinem
Briefkasten liegen. "Man steigt ja selbst mit ab", lautet ein anderes Zitat
aus dem Film. Es scheint so aussichtslos. Es ist die zweite Phase des Abstiegskampfs.
"Vorzeitige Resignation".
So sieht also Rolf Heißler
aus. Ein Mann, der 20 Jahre im Gefängnis gesessen hat; ein Mann, der
zu den 20 Personen gehörte, die in der RAF die Schleyer-Entführung
organisierten und durchführten; ein Mann, der (ich glaube 1976 war´s)
bei der Entführung von Peter Lorenz als Gefangener ausgeflogen wurde;
ein Mann, dem bei seiner Verhaftung eine Kugel in den Kopf gejagt wurde.
Rolf Heißler sitzt an diesem Freitag auf dem Podium, in der "Tuchfabrik"
in Trier und erzählt. Zum Thema "Vorgeschichte der Entstehung der
Stadtguerilla", eine Veranstaltung der "Roten Liste" der Uni Trier. Mir
ist zuerst gar nicht bewusst, wer Rolf Heißler überhaupt ist.
Und dann doch. 20 Jahre Gefängnis. Mein Bruder hockt neben mir, und
es ist immer so ein bisschen Urlaub, wenn ich ihn in Trier besuche. Auch
wenns bisher erst zum dritten Mal ist, und weil ich bisher stets nur einmal
zur Übernachtung blieb. Diesmal auch. In der Tuchfabrik haben wir
ein leckeres Essen hinter uns. Hähnchenbrustfilet mit Gorgonzola gefüllt
auf Penne und Tomatensoße - hmmm... echt klasse, und lauschen nun
Heißler und noch anderen Personen aus der RAF-Umgebung. Wie zum Beispiel
Monika Berberich. Morgen kommt Thorwald Proll, ein führender Kopf
der ersten Generation neben Baader und Ensslin. Würde ich gern sehen.
Geht aber nicht. Morgen ist ein weiterer großer Tag. Jedes VfL-Spiel
ist für mich etwas Besonderes. Morgen folgt Spiel Nummer 265. Morgen
lerne ich ein weiteres Stadion kennen. Das Bruchweg-Stadion in Mainz, beim
so viel und hoch gelobten Aufsteiger, der die Verhältnisse in der
Liga gehörig durcheinander wirbelt, und das mit einer absolut namenlosen
Mannschaft. Zu Hause bei Thommy angekommen, schauen wir erstmal den VfL-Film,
mit Fellensiek, Neururer, van Duijnhoven, ohne mich, aber mit Günther
Pohl. "Der VfL ist ein Verein, der selten gewinnt. Aber der sich, wenn
er mal gewinnt, noch so richtig drüber freuen kann." Er ist der Fußball-Philosoph
in diesem Streifen. Dass ich bei einer Aussage von Pohl mal nicken würde,
hätte ich auch nicht gedacht. Morgen ist Mainz. Morgen müssen
wir gewinnen. Ansonsten sieht es zappenduster aus, und unser Zwischenziel
"20 Punkte" würde in den Bereich der Utopie hinaufgleiten. Heute penne
ich in meinem Kalla-Trikot. Das Blau-Weiße aus dem letzten Jahr mit
der Nummer "6" und dem Namenszug unseres Abwehrchefs hintendrauf. Ich verkrümel
mich auf eine Matratze in Thommys Schlafsack und nicke in Ruhe ein. Ruhige
Urlaubsstimmung, wenigstens ein bisschen.
Samstagmorgen komme ich
gut aus der Koje. Sehr gut sogar für meine Verhältnisse. Sonst
kneife ich meine Augen noch zwei Stunden nach dem Aufstehen übermüdet
zusammen, diesmal fühle ich mich, als hätte ich schlafgewandelt
und dabei zwei Flaschen Cola und zwei Kannen Kaffee auf Ex in mich reingeschüttet.
Heute kommt die große Wende der Saison. Die Aufholjagd beginnt. Ein
3:0 kündige ich MSV-Fan Helmut per sms an. Heute ein Sieg, nächste
Woche gegen Nürnberg sowieso, dann im Aufwind ein Punkt in Stuttgart
und dann noch ein Sieg gegen den HSV. Und den Schwung und die 21 Punkte
nehmen wir mit die Rückrunde; um dann noch auf Platz acht durchzustarten.
Ich finde diesen Plan gut. Zu spät dran sind wir trotzdem. Aber das
nur, weil Thommy verpennt und mich nicht geweckt hat. Beeilung, sprinten
zum Hauptbahnhof in Trier, und rein in den Regionalexpress nach Koblenz.
Meine Lieblingsstrecke an der Mosel entlang, an Bahnhöfen vorbei wie
"Kobern-Gondorf". Der Morgennebel ist schon abgezogen. Und von wegen Regen.
Lediglich ein paar weiße Wölkchen haben sich am Himmel zusammengerottet,
aber gegen die leicht strahlende Sonne können sie nichts ausrichten.
"Gestern", erzähle ich Thommy, "als ich durch die Eifel gefahren bin,
da schneite es und der Schnee lag." Das war auch malerisch. Aber nicht
so malerisch wie die ruhige Fahrt heute Morgen. Rechts neben uns hockt
eine Omi im Mittelalter, die sich ein Pülleken Sekt einverleibt und
einen Mainz-05-Schal trägt. Guten Morgen! In Koblenz steigen wir um
in die Regionalbahn Richtung Mainz. Die fährt an der zweitschönsten
Strecke vorbei, nämlich direkt am Rhein und durch die ganzen schnuckeligen
Weindörfer wie "St. Goar". Thommy und ich geraten in die große
Gruppe der VfL-Fans, die mit dem billigeren Wochenend-Ticket reist und
nicht etwa mit dem Sonderzug. Stimmung ist gut, die auswärtsspielüblichen
Bahnhofs-Sprechchöre wie "Hurra hurra die Bochumer sind da!" oder
neuerdings auch das ziemlich plumpe "Kniet nieder ihr Bauern, Bochum ist
zu Gast!" empfangen uns und den Rest der Zugreisenden. Da Thommy die ganze
Welt kennt, sind unter den VfL-Reisenden auch ihm bekannte Uni-Recken aus
Bochum. Zum Beispiel Georg, der einst nicht ganz unbeteiligt an Deutschlands
Vorzeige-Fanzine "VfouL" war. Georg ist mit einer Achter-Gruppe unterwegs,
und wir gesellen uns dazu. Die Regionalbahn besteht aus doppelstöckigen,
rot-weißen Waggons, ganz so wie in NRW. Wir sitzen oben. Genießen
die Landschaft, äußerst dumme Unterhaltungen zwischen jüngeren
VfL-Fans aus dem hinteren Teil des Waggons ("Ey du Hurensohn!" "Wie hast
du misch genannt?" "Hurensohn!" "Ey was beleidigst du meine Mutter! Selber
Hurensohn", und das minutenlang), und Witzkes in unserer Gruppe. Alle Acht,
fünf Männer und drei Frauen, tragen weiße Pappbecher um
den Hals. "Schluckbecher" steht drauf und jeweils ein Trinkspruch. "Was
soll´n das?", fragt Thommy. "Bei jedem Umsteigen trinken wir einen
Becher Genever", antwortet Georg. Selbstredend haben sie auch noch tütenweise
Bier dabei. Eigentlich müssten sie zu diesem späten Zeitpunkt
der Hinfahrt schon recht angeschickert sein. Sie wirken aber noch normal.
Im Gegensatz zu anderen Bochumern im Zug. Ich sehe sie nicht, aber Thommy
beim Weg zum Klo. "Hinten, da hat einer ein Buckley-Trikot an", sagt er.
"Dem gehts grad nicht so gut." Thommy und ich bekommen auch einen Becher.
Er steigt ein bei einer Sonder-Genever-Runde, ich nippe ganz brav nur an
meiner Apfelschorle auf die Stockeligkeit von Vratislav Lokvenc. Wir fahren
an der Loreley vorbei; mittlerweile sehe ich diese Gegend zum unzähligsten
Mal, und doch ists immer noch schön. "Diese Ecke des Rheins ist Weltkulturerbe",
weiß Georg. Doch es staunt niemand. Dann öffnet ein Gruppenmitglied
eine Bierflasche am Kleiderhaken des Zuges. Thommy und ich staunen. Das
Spiel rückt näher. Es ist alles in bester Ordnung.
Mit fünf Minuten Verspätung
landen wir um 13.35 Uhr am Mainzer Hauptbahnhof. Georg und die anderen
wollen in eine andere Richtung als wir. Thommy und ich möchten uns
eigentlich gern noch ein bisschen in der Innenstadt umsehen, als mir auffällt,
wie kalt das eigentlich schon geworden ist. Ganz optimistisch habe ich
natürlich darauf verzichtet, eine Jacke mit nach Trier zu nehmen.
Und meine drei Lagen (Vietnam-Trikot, Kalla-Trikot, grüner Pullover)
helfen nicht wirklich. Ich unterdrücke die Kälte, bibbere zwei
Minuten ganz stark. Aber dann gehts. Ein Ausflug in die Stadt ist nicht.
Dummerweise tragen wir schon unsere Schals (Thommy den mit der Aufschrift
"Thomas Ernst - Gustl hält den Kasten sauber") und werden daher für
ganz gemeine Hooligans gehalten. Ein Polizist hält uns vom Spaziergang
in Mainz mit dem Satz "Wir begleiten euch gleich zum Stadion" fern. So
etwas Dummes habe ich noch nie gehört. Einige VfL-Fans bleiben am
Hauptbahnhof, der Sonderzug ist längst noch nicht da, ebenso wie Mainzer
Fans (die auch alles andere als einen schlechten Ruf haben). Und so kommt
es, dass drei Polizei-Mannschaftswagen und 15 bis 20 Polizisten eine Gruppe
mit 40 bis 50 Bochumern begleiten. "Unglaublich", sagen wir beinahe im
Minutentakt. Später kommt "Was soll das hier?" hinzu.
+= und jetzt stellt Euch vor, ich hätte mich zum Fotografieren umgedreht. Das sah da nicht anders aus.
Für uns werden teilweise
sogar Hauptstraßen gesperrt. Das ist total bescheuert. Um 14.05 Uhr
stehen wir vor dem Bruchweg-Stadion am "Dr. Martin-Luther-King-Weg". "Zu
früh eigentlich", stellen wir fest, aber das ist uns jetzt auch egal.
Unser positiver Eindruck von Mainz ist an dieser Stelle schon ein wenig
kuriert und allmählich kommt uns ins Bewusstsein, dass Mainz eine
total konservative, blöde Karnevalsstadt ist. Der Verein hat innerhalb
von fünf Jahren den Zuschauerschnitt von 6.000 auf 18.000 verdreifacht.
Woran hat das wohl gelegen? Mainz ist das Vorzeigebeispiel für eine
vom DFB gewollte Fanszene. Vermeintlich gewaltbereite Gästefans (wie
Thommy und ich) werden so massiv von Polizisten überwacht, dass ein
Zusammentreffen mit Einheimischen fast unmöglich ist. Am Eingang gibt
es gleich drei (!) Kontrollen. DREI !!!!! Zweimal die übliche Körper-Abtastnummer.
Bei mir will der Security-Affe mein Handy sehen ("da könnten Sauereien
drin sein"), bei Thommy werden seine Bleistifte samt Radiergummi kritisch
beäugt. Es wird immer abstruser. Der DFB will es so, und Mainz setzt
es willig um. Wir beide müssen pinkeln. Und das ist der Hammer schlechthin.
Die Klos sind die saubersten, die ich je gesehen habe. Wenn die Gäste
schon mies behandelt werden, sollen sie wenigstens ordentlich pissen können,
oder was? In den Pissbecken gibt es sogar blaue Duftsteine und über
den Waschbecken graue Papiertücher. Kopfschütteln. Vor dem Block
gibt es dann sogleich noch Kontrolle Nummer drei, wenigstens diesmal ohne
Abtasten. Zum ersten Mal wünsche ich mir, dass es jemandem gelingt,
eine Rauchbombe ins Stadion zu schmuggeln. Mit einer Bratwurst im Magen
und einer gehörigen Portion Wut im Bauch betreten wir das Stadion.
14.20 Uhr. Hype um Mainz. Ist wenigstens die Stimmung klasse? Nö.
70 Minuten vor dem Anpfiff sind beide Sitzplatztribünen komplett leer.
Na gut, jeweils vielleicht hundert Mann sind schon da. Der Rest ist leise.
Nichts ist zu hören. Um halb drei betritt ein "Warm-Up-Man" den Rasen.
Oh wie ist das lächerlich. Was soll dieses ganze Galaber mit Euphorie
und jedes Mal Superstimmung? Das ist wirklich ein perfektes Beispiel auch
für übertriebenen Medienwahn. In der Stunde vor dem Spiel passiert
dennoch Erstaunliches. 45 Minuten vor dem Anpfiff klopft mir jemand mit
den Worten "Hallo Herr Ernst!" auf die Schulter. Hä? Wer ist das denn?
Nie gesehen! Ich beachte ihn kaum. Wahrscheinlich wieder einer, der mich
über meine Homepage kennt. "Gehst doch immer zu Galatasaray, oder?"
ist einer seiner nächsten Sätze. Aha, er kommt aus Mülheim.
So langsam ahne ich, wer es wohl sein könnte, und TATAAAAA, es ist
derjenige, der die anonymen Postkarten vor
ein paar Monaten geschrieben hat. Er kennt mich schonmal nicht über
meine Homepage; meine Antwort auf seine blöden Karten hat er leider
nicht gelesen. Er fragt nach einem Rostock- und einem Berlin-Auswärtsspiel,
ich antworte kurz und knapp. Hab keinen Bock drauf. Er verschwindet relativ
flugs wieder. Das Bruchweg-Stadion ist eilig zusammengeschustert. Eigentlich
ist es eine Art ganz kleines Ruhrstadion, aber mit offenen Ecken. In zwei
Ecken davon stehen amateurhaft wirkende unüberdachte Zusatztribünen,
das sieht ziemlich hässlich aus. Wenigstens sind wir nah dran. Die
Gäste-Kurve ist auf der Gegen-Gerade. Die Spieler kommen zum Warmlaufen.
Neururer setzt auf die Elf vom Bayern-Spiel. Abwarten.
Anpfiff. Rauchbombe.
Thommy und ich schauen uns an, und schmunzeln. Es ist so wie erwartet.
Okay, die Rauchbombe stinkt wie immer, aber wir freuen uns darüber.
Schnell flitzen Security und Polizei zusammen und beratschlagen, welcher
böse VfL-Fan die wohl gezündet hat. Hihi. In den ersten drei
Minuten haben wir das Spiel ganz sicher im Griff. Wir stören früh,
lassen zweimal den Ball über mehrere Stationen flott laufen. Drei
volle Minuten. 180 Sekunden. Doch was dann passiert, wage ich kaum auf
den nächsten Zeilen zusammenzufassen. Thommy wird es zur Halbzeit
eine "unerklärbare Leistung" nennen, Neururer wird sich nach dem Spiel
für die "schlechte erste Halbzeit bei den Fans entschuldigen". Ich
formuliere schon den Abgesang. Es ist zu spüren, was Selbstbewusstsein
ausmacht. Wir sind eine durchschnittliche Bundesliga-Mannschaft. Absolut
durchschnittlich. Im letzten Jahr, mit dem Lauf im Rücken, haben alle
über ihren Verhältnissen gespielt, und zack, Fünfter. Diesmal
läuft es nicht nach Plan, weil wir kein Glück haben (Stichwort
Lüttich), klar, weil die Neuzugänge nicht einschlagen wie gewünscht,
und auch aufgrund falscher Trainerentscheidungen. Und zack ist das Selbstvertrauen
futsch, und wir sind abgeschlagen. Die Mainzer spielen unter anderem mit
Kramny, Nikolic (eigentlich gescheiterte Bundesligaspieler, die nur noch
am Ende ihrer Karriere eine schnelle Mark machen wollten) und Weigelt (ein
Regionalliga-Spieler). Aber sie spielen, was sie können, und vor allem
so euphorisch wie wir in den letzten beiden Jahren. Ihr Pressing klappt
prima und stellt uns vor unlösbare Probleme. Der einzige Mainzer Star
ist aber Trainer Jürgen Klopp, und der ist hauptverantwortlich für
den Hype. Er, der alternative Typ, hat dem ganzen Verein zu Unrecht ein
alternatives Image verpasst. Glaubt nicht dran! Konservative Stadt, konservativer
Verein, guter Trainer. Mainz vergibt eine Chance nach der anderen, während
unsere nur hinterherstarren. Kramny trifft die Latte, da Silva hämmert
den Ball mit einem Superknaller aus spitzem Winkel zum 1:0 in der 13. Minute
in den Knick, van Duijnhoven pariert weltklasse nach einem Auer-Kopfball.
Das ist nur ein Ausschnitt aus den zahlreichen Chancen der Mainzer. Das
tribünenwechselseitige "FSV" - "Mainz 05" (wie bei uns "Wen lieben
wir?" "VfL") klingt sogar beeindruckend; das erste Mal, das mich in diesem
Stadion etwas beeindruckt. Bei uns stimmt gar nichts. Vor allem die dänische
Fraktion auf unserer rechten Seite versagt völlig. Madsen ist scheinbar
nur ein Guter, wenn der Erfolg da ist. Er verpatzt fast jeden Laufweg,
kämpft nicht wie gewohnt, rennt sich immer fest, verliert fast jeden
Ball. Colding rechts in der Viererkette lässt sich zweimal ganz übel
überlaufen und steht auch sonst immer falsch. 99 Prozent aller Mainzer
Angriffe laufen über unsere rechte Abwehrseite, und Neururer merkts
nicht. Er stellt nicht um. Colding gehört nicht mehr in die Mannschaft.
Bei "Anstoß 2" gibt es sieben Spielstärken (Sieben ist Weltklasse,
Sechs und Fünf sind Bundesligareif, vier und drei Zweitligastärke).
Colding ist am Anfang der Saison von Fünf auf Drei abgesackt. Es ist
kein Leader mehr auf dem Platz, kaum einer spricht, meckert, gibt Kommandos.
Meichelbeck bemüht sich auf der linken Seite. An Trojan, Lokvenc,
Wosz und Zdebel läuft das Spiel aber völlig vorbei. Preuß
rackert. Zu wenig. Zur Halbzeit sind alle Bochumer ruhig, geschockt, wütend
und furchtbar enttäuscht. 0:1. Es hätte 0:3, 0:4, 0:5 stehen
können. Deckungsgleich mit dem Hannover-Spiel. "Ich hätte nicht
gedacht, dass die Situation so dramatisch ist", sagt Thommy, der zum ersten
Mal seit dem Bremen-Spiel den
VfL sieht. "Sei froh", antworte ich, "dass du nicht in Hannover warst."
Fast minütlich hat Thommy sehr lautstark auf Colding rumgehackt (vorwiegend
"NIMM DEN C O L D I N G RAUS!!!"). Was bis vor zwei Wochen bei uns
eine Majestätsbeleidigung gewesen wäre, sorgt diesmal nicht im
Ansatz für einen Widerspruch. "Wenn wir absteigen, können wir
nicht davon ausgehen, direkt wieder aufzusteigen. Fünfmal direkt wieder
hoch - nee. Irgendwann muss das schief gehen", sagt Thommy. 0:1. Puuuh,
ganz schlecht. Und das gegen eine solche Witztruppe.
Colding bleibt drin, was
auch der Nachplapperer neben uns, der stets unserer fundierten Kritik lauschte
und selbst Colding nicht mehr mag, blöd findet. Wosz nicht, Trojan
nicht. Neu dabei sind Misimovic und Bechmann. Muss ich die Auswechslungen
verstehen? Egal, außer Rein hätte Neururer alle rausnehmen können.
Müssen. Gudjonsson und Stevic bleiben auf Bank oder Tribüne.
Kriegen keine Chance. Das Beispiel Meichelbeck hat doch gezeigt, wie sehr
sich Neururer manchmal irren kann. In der zweiten Halbzeit wird es wenigstens
etwas besser, es bleibt aber schlecht. Wenigstens nicht mehr sauschlecht.
In Hannover hatte ich
pausenlos das Gefühl, dass das Spiel 0:10 ausgeht, hier beschleicht
mich der Gedanke, dass wir mit allem Glück der Welt sogar noch 1:1
spielen können. Vor allem, als Bechmann in Minute 59 ganz blank aufs
Tor zuläuft und den Ball mit Kawumms ans Außennetz zimmert.
Das macht die peinliche Sache aber im Endeffekt nur noch runder. Unsere
einzige dicke Torchance. Mit Misimovic kommt zwar ein bisschen mehr Spielkultur.
Aber Zwetschge bleibt allein. Dass Bechmann so verunsichert spielt, ist
ein Trainerfehler, denke ich. Durch die ewigen Aus- und Einwechslungen
hat er den talentierten Rechtsaußen nicht gerade mit Selbstvertrauen
gesegnet. Maltritz kommt noch für Zdebel, kurz nachdem der seine fünfte
Gelbe gesehen hat. Zdebel, Maltritz, Preuß, alles nur noch Mitläufer
außer Form. Nach dem Wechsel gehts drunter und drüber. Wir sind
zwar optisch feldüberlegen, aber die Chancen hat Mainz. Drei- oder
viermal verstolpern freistehende Mainzer dicke Konter. Auf den Rängen
wirds nur schübeweise laut. "Da kommt ja nix", meint Thommy etwas
untertreibend. "Und das, obwohl eine Mannschaft nicht überlegener
sein kann." Meichelbecks Gelb-Rote in Minute 81 macht das Chaos komplett.
Der einzige zweikampfstarke Spieler fehlt nächste Woche gegen Nürnberg.
Herzlichen Glückwunsch. Diese heutige Leistung ist eine Sauerei. Eine
richtig dicke Sauerei. Abpfiff. 0:1. Glimpflich davongekommen. Wir Fans
waren erstaunlich gefasst während des Spiels. Nur zweimal "Wir wollen
Euch kämpfen sehen", ansonsten entweder Schweigen oder aufmunternde
"V-F-L"-Rufe. Es ist eine resignierte Stimmung. Vier Abstiege haben ihre
Spuren hinterlassen; ein weiterer würde nur zum Bereich Normalität
gehören. Doch bleibt es ruhig? Nein. Nach dem Abpfiff branden laute
und wütende "Wir haben die SCHNAUZE VOLL"-Sprechchöre auf. Und
außer van Duijnhoven werden alle winkenden Spieler ausgepfiffen.
Alle kommen nicht mal. Einige ziehen ohne Gruß sofort in die Kabine.
Schwach. In Bochum droht alles zu kippen.
Schnell verschwinden Thommy
und ich Richtung Bahnhof. Die Spieler und der Trainer tanzen lange nicht
mehr, die Polizei hat sich scheinbar irgendwohin ins Warme verkrochen.
Fast allein spazieren wir durch Mainz, kurz in einen "Aldi-Süd"-Laden
rein, um Süßkram zu kaufen, und rekapitulieren. "Bis zur Winterpause
weitermachen, und dann einen Schnitt ziehen", meint Thommy. Auf jeden Fall
Hashemian zurückholen. Unser Trainer ist derweil scheinbar unumstritten,
genießt aufgrund der letzten Saison hohe Anerkennung und Dankbarkeit.
Keinen Pfiff, keinen "Raus"-Ruf gab es in der Kurve, Altegoer bleibt auch
ruhig. Und doch: Diskutiert wird trotzdem heftig, im stillen Kämmerlein,
bestimmt auch in Internetforen wie "VfL4u". Sätze wie "Holen wir doch
den Toppi zurück" stehen nicht mehr auf dem Fan-Index. Die Zahlen
sind eine Katastrophe: Nur drei Siege aus 18 Pflichtspielen, nur einen
"Dreier" aus den letzten elf Bundesligaspielen, vier Auswärtspleiten
in Folge mit jeweils unüberbietbar desolaten Leistungen, und dreimal
in
Folge auswärts kein Tor erzielt. Die Stürmer haben zusammen siebenmal
getroffen (Lokvenc 3, Madsen 2, Bechmann 1, Diabang 1), Buckley allein
für Bielefeld zehnmal (und das ist der einzige freiwillige Abgang,
den unser Trainer nicht mehr haben wollte). Wie oft will sich Neururer
noch für eine Leistung bei uns Fans entschuldigen? Reichen das Rostock-Spiel,
die erste Halbzeit auf Schalke, die Partien in Wolfsburg und Hannover sowie
die heutige erste Hälfte noch nicht? Seine Taktik scheint überholt:
Mit dem aktuellen Spielermaterial klappt das 4-3-3 einfach nicht. Er hält
trotz Alternativen (Gudjonsson für Zdebel, Preuß für Colding,
Bechmann für Trojan, Stevic für Maltritz) zu lang an seinen Lieblingen
fest. Seine Quote bei den Einkäufen ist in dieser Saison zu schlecht.
Und die ständig lang in den Strafraum geschlagenen Standardsituationen
bringen in der Zeit nach Fahrenhorst und Oliseh einfach nichts mehr. Hört
auf damit! Peterchen ratlos. Heute, ja heute ist Neururer mein Rekordtrainer
geworden. Zum 78. Mal habe ich ihn auf der VfL-Bank sitzen sehen, so oft
wie keinen anderen. Und heute ist er bei mir so stark in der Kritik wie
nie zuvor. Es ist nicht mehr alles auf den 30. September, auf Edus Patzer
und auf zwei nicht anerkannte Tore gegen Leverkusen und den BVB, die vier
Punkte gebracht hätten, abschiebbar. Hört auf, Euch das endlich
einzureden! ABSTIEGSKAMPF ist angesagt! Lernt am besten auswendig, wie
das geschrieben wird. Buchstabiert es. Vielleicht kapiert Ihrs dann.
Als wir am Mainzer Hauptbahnhof
eintreffen, ruft eine kleine VfL-Gruppe "Erst steigen wir auf / Dann wieder
ab / Und zwischendurch Uuuuuuefa-Cup". Dieser Sprechchor trifft die Stimmung
in Bochum perfekt. Ich verspeise einen Riegel nach dem anderen aus dem
Kinder-Schokolade-Verschnitt von Aldi. Und zwei Hamburger. Georg und seine
Gruppe laufen uns über den Weg. Die Pappbecher sind längst ausgetrocknet,
die Laune verhagelt. Mainz-Trainer Klopp will "90 Minuten Riesenfußball"
von seiner Mannschaft gesehen haben, erfahre ich per sms. Subjektive Wahrnehmung
nennt man das. Unsere beste Zweikampfbilanz - sagt die sms weiter - hatte
Colding. Auch das eigentlich unfassbar. Gemeinsam mit Thommy fahre ich
bis Koblenz, immer noch ohne Ausflug in die Mainzer Innenstadt. Es ist
zu kalt, die Laune zu schlecht, der Zeitplan zu knapp. Beim nächsten
Mal. Wenns eins gibt. In Koblenz gehts in den EuroCity bis Mülheim.
Über Andernach, Remagen, Bonn, Köln, Düsseldorf und Duisburg.
Wow, die Abteile der Österreichischen Bundesbahn sind absolut komfortabler
als die ICE- oder IC-Abteile der Bundesbahn. Ich stelle erstaunt fest,
dass ein EC von Klagenfurt direkt bis Mülheim fährt, und fange
dann an, meine Erinnerungen vom heutigen Nachmittag zu notieren. Ohne den
Aufenthalt in Trier bei Thommy wäre das eine sinnlose Selbstverarschung
gewesen; also wieder das pure Bochumer Lebensgefühl. Meine geplante
Tour nach Stuttgart in zwei Wochen werde ich mir noch einmal gut überlegen.
Es wäre wieder total sinnlos.
Das Magenblubbern ist immer
noch da. Ich gehe ins Bett, und kann bestimmt genauso wenig schlafen wie
Herr Neururer. Du bist auf der Tribüne so machtlos. Du siehst, dass
deine Mannschaft einfach alles falsch macht, und kannst nichts tun. Außer
brüllen, schimpfen, meckern, anfeuern. Wenns nächste Woche gegen
Nürnberg wieder schief geht, dann gute Nacht.
Gute Nacht Bochum.
Im Spiel
Drumherum
Live-Ticker... "Kalla in den Sturm"... Gerd spielt Schach... Krüger tanzt auf der Aida... Thommy bibbert in Bööörlin... eins, zwei, DREI ... genau: Punkte gibts dazu!
Der Tippkönig lebt
"Lieber nicht dabei als mittendrin"
Manchmal würde ich gern
wissen, wie das so aussieht, wenn ich Dirk meinen sms-Ticker ins ferne
München schicke. Wahrscheinlich sitzt er grad in der Redaktion, in
einem Café, einer Kneipe, zu Hause bei ner Tasse Tee, vielleicht
unterhält er sich und ich störe, vielleicht langweilt er sich,
und er ist dankbar dafür, dass ich ihn mit egal welchen Ergebnissen
unterhalte. Dirk sieht ungefähr zweimal pro Saison ein VfL-Spiel -
ist aber auch immer dann mit vor Ort, wenn ich mich im Stadion aufhalte.
Ja, er gehört auch als "Phantom" mit zu dieser Seite, denn wie oft
habe ich an dieser Stelle das Wort "sms-Ticker" verewigt? Was soll nun
das Gesülze? Ein weiteres Ritual ist Dirks Tipp geworden. Und eigentlich
konnte ich mich auf Dirks Tipp immer verlassen. Wenn er nicht tippt, okay
- dann war das auch besser so; und wenn er eine für den VfL positive
Prognose zu treffen wagt, dann traf die auch regelmäßig zu.
Eine "Sag ich doch"-Kurznachricht flimmerte dann nach dem Abpfiff auf meinem
Mobiltelefon auf. Und wahrscheinlich freuten wir uns beide. Heute beginnt
meine Geschichte so in etwa mit diesem Ritual.
Oh je. Es ist wieder einer
der Tage, an denen Du aufwachst, und es besser nicht wagst, den Sigmund
Freud'schen Wälzer über die "Traumdeutung" aus dem Schrank zu
holen. Ich wundere mich, wieder in meinem flauschigen Bettchen zu liegen,
als ich um 10.55 Uhr auf den Radiowecker sehe, und mich nicht mehr in dem
Zeppelin zu befinden, der mich Sekundenbruchteile zuvor noch über
Mülheim transportierte, dann aber mitten auf der in der Mülheimer
City zentralen Schlossbrücke landete, um mich aus Übelkeitsgründen
rauszulassen. Übel, müde, Fau-Eff-Ell. Meine Homepage habe ich
gestern Abend schon vorbereitet. In einem Abwasch mit dem Bericht des MSV-Spiels
gegen Frankfurt. "Die Wende oder das vorzeitige Ende?" wird bis heute
Abend, irgendwann in der Nacht, dort stehen, und eins ist klar: Wenn wir
heute verlieren, dann werden wir bis zum letzten Spieltag zittern müssen.
Garantiert. In der WAZ sehe ich die mutmaßliche Aufstellung. Aber
was ist schon mutmaßlich? Unser Trainer hat während der Woche
die Peitsche knallen lassen und gedroht, gedroht und nochmals gedroht.
Im Briefkasten das neueste "Mein VfL"-Stadionheft (echt praktisch, so eine
Mitgliedschaft). Auf dem Titel Peter Madsen. Wie viele Zuschauer kommen
heute wohl? Wer ist von den Jungs da? Ich schalte mein Handy an, und nach
ein paar Sekunden bimmelt es nach der Melodie von "Noting else matters".
Mein Zeichen für eine sms. "Muss heut mit meinem Schachclub Turnier
gewinnen. Werd also die Trendwende nicht live sehen. Viel Erfolg und Gruße
an alle", steht da drin. Gerd kommt nicht. Zieht SCHACH, ich betone SCHACH
(!!) dem VfL vor. Das ist die glatteste rote Karte, die ich auf dieser
Homepage je verteilt habe... Ich marschiere los, lasse den Tag und die
Vorstellung, in einem Zeppelin davonzuschweben, vor mir ablaufen, und watsche
durch die herbstliche Wettersuppe. Es ist nicht wirklich nebelig, nicht
wirklich kalt, nicht wirklich regnerisch, nicht wirklich bewölkt und
schon gar nicht sonnig. Es ist eine urbane Brühe, die nur der fußballstadiontypische
Bratwurst-Bier-Zigaretten-Duft noch so richtig komplettiert. Ich frage
Dirk in München nach seinem Tipp. So wie immer. Naja, nicht ganz.
"Nachdem Deine Tippkünste zuletzt arg versagten, was sagst Du diesmal?
Gruß von Peter Neururer". Ich verabschiede mich in den Nachrichten
an Dirk nie mit Andi, sondern immer mit dem Namen des aktuellen Trainers.
Einst war ich bei ihm unter "Zumdick Handy" eingespeichert. Das hat doch
was Kultiges, oder? Zugfahrt. Das übliche Brabbelbrabbel. Die Vorweihnachtszeit
beginnt. Morgen ist der 1. Advent, und schon heute haben alle Weihnachtsmärkte
geöffnet. Die Lichterketten am Essener Hauptbahnhof sind schon seit
ein/zwei Wochen hell erleuchtet, und präsentieren das diesjährige
Gastland Polen. Wen interessiert's? Neben mir sitzt ein Dortmund-Sympathisant.
Kurz vor Bochum - ich bin noch ganz in "Mein VfL" vertieft - flüstert
er mir "Ich bin zwar Dortmund-Fan, wünsche aber trotzdem viel Erfolg"
zu. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit bin ich bereits jetzt dank Schal
und Mütze voll und ganz als VfLer identifizierbar, und ich bedanke
mich artig. Gebe es aber nicht zurück. Kurz nach zwei, der Bochumer
Hauptbahnhof ist eine einzige Baustelle. Mein Bruder Thommy, vor
einer Woche noch Zeuge des unfassbaren 0:1-Dramas von Mainz, ist grad
in Berlin, bei nem Seminar, und bibbert bestimmt mit. In der 308 Richtung
Stadion quatscht mich mal wieder jemand mit "Hallo Andi" an, das wird scheinbar
jetzt zur Serie, und ich kann sein Gesicht absolut nicht zuordnen. "So
früh hier?", fragt er. "Du doch auch!", lautet meine wenig originelle
Antwort. Es ist so wenig los hier; ich habe in der Bahn sogar problemlos
einen Sitzplatz ergattert. Es vibriert in meiner rechten Hosentasche. Dirk.
"3-1" schreibt er. Dann fällt mir der Name des Typen von schräg
gegenüber ein. Timo, genannt "Teimo", der war 1995, meine Güte,
neun Jahre ist das schon her, bei einer Jugendfreizeit mit auf meinem Sechser-Zimmer.
Der Teimo... jaja, der geht also auch zum VfL!?! Raus aus der Bahn, rein
ins Stadion, rein mit der obligatorischen Bratwurst, rein mit dem halben
Liter Cola (diese Hauptmahlzeit kostet fünf volle Euro, macht umgerechnet
zehn Mark, ganz schön fett, ehrlich!). Um Punkt halb drei, auf den
Stehstufen des Blocks P, ist kaum ein Mensch. Ja, so ein Abstiegskampf
ist eben kein Spaß, das tut sich nicht jeder an, vor allem nicht
gegen Nürnberg. Und obwohl das Wetter so usselig ist, kommen immerhin
über 20.000, was ich als Erfolg werte. Sam, Sara (so heißt die
blonde Person, die ich im Bayern-Spielnoch
nicht zu identifizieren wusste) und ihr Freund stoßen kurz vor dem
Anstoß zu unserer Gruppe hinzu. Sie haben diesmal keine Probleme,
sich durchzudrängeln. Die Aufstellung ist zu diesem Zeitpunkt natürlich
schon längst in meinem Umkreis von drei Quadratmetern diskutiert.
Neururer traut sich was. Letzte Woche noch haben ich und alle User des
Forums "VfL4u" unseren Erfolgscoach nach allen Regeln der Kunst kritisiert
und schon fleißig über Nachfolger diskutiert, jetzt lässt
er Wosz und den Titelbild-Madsen draußen. Rumms hat es wohl in der
Kabine gemacht. Nicht weniger als ALLE (!) Neuzugänge spielen. Sieben
Stück an der Zahl, von Knavs über Preuß, Maltritz, Misimovic,
Bechmann und Trojan bis schließlich zu Lokvenc. Zusammengewürfelter
gehts kaum. Sam kommt, und als erstes? Diskutieren wir über Trainer.
Bei Schäfer und Lorant wollen wir beide unsere Dauerkarte verbrennen.
Röber wird gemeinhin als "bedingt akzeptabel" eingestuft, und Toppi
hat entweder große Freunde oder große Feinde. Ich bin ein
Toppi-Freund. "Aber am liebsten", versuche ich die Diskussion zu einem
harmonischen Ende zu führen, "wäre es doch, wenn wir mit Peter
da raus kommen." Und irgendwie nicken alle. Aber nur irgendwie. Gerd wird
von seinem neuen Nachbarn in Dahlhausen vermisst. Ich frage nach Krüger.
"Der ist immer noch auf der Aida in der Karibik", erzählt Sam. Ich
verfluche ihn dafür.
Abstiegskampf also. Nürnberg
ist so etwas wie mein Lieblingsgegner. Fünf Spiele, vier Siege - so
eine gute Quote habe ich gegen keinen anderen Klub. Aber heute? Wenn wir
verlieren, sind wir nicht nur abgeschlagen, sondern sogar schon RICHTIG
abgeschlagen. Das ist der wahre Druck, den wir schon so lange nicht mehr
aushalten mussten. Die Stimmung ist verhaltener. Na gut, vor dem Anpfiff
wurde Neururer wie immer mit "Peeeeter Neururer schalalalalala" empfangen,
aber es sangen nicht mehr alle mit. Einige Pfiffe und sogar ein paar Stinkefinger
waren deutlich zu hören und wahrlich nicht zu übersehen. Ein
rauer Ton? Das Spiel ist langweilig. 25 Minuten passiert außer nervösem
Ballherumgeschiebe nichts Wesentliches. Wir sind nervös, bekommen
nichts so wirklich in den Griff. Dann legt Bechmann auf Lokvenc ab, der
schüttelt seinen Gegenspieler etwas unsanft ab, und haut das Ding
trocken links unten ins Eck. Tor, 1:0, und ein Musterbeispiel für
die Phrase "wie aus dem Nichts". Ich wage es nicht zu brüllen, nicht
zu jubeln, ich denke, der Schiri hat längst auf Foul entschieden,
weil der Nürnberger Torwart gar nicht reagierte und weil alle Schwarz-Roten
im Vollspeed zum Schiri-Asse sprinten. Doch hä? Das Tor zählt
wirklich... "Schiebung. Vorher eindeutig Foul. Schiri blind", schickt MSV-Fan
Helmut per sms (Ein Hoch auf die Technik!), der zu Hause vor der Premiere-Konferenz
sitzt. Mir ists schnuppe, 1:0 steht auf der Anzeigetafel. Es erinnert mich
so vieles an gestern, an das MSV-Spiel.
Das Spiel ist schwach, dann fällt ein Tor, und es kippt ein bisschen.
Es folgt unsere beste Phase. In der Viertelstunde vor, und in der Viertelstunde
nach dem Wechsel sind wir die eindeutig bessere Mannschaft. 42. Minute...
Ecke Misimovic, Kopfball Kalla, driiiiiiiiiiiiiin, 2:0, jaaaa, jetzt klappts
auch mit dem Jubel, Arme hoch, brüllen, dieses Tor fiel zwangsläufig,
und KALLA, unser Abwehrschreck, unser formidable Torjäger. Treffer
Nummer vier im 15. Spiel, unfassbar. "Kalla in den Sturm - Kalla in den
Sturm - Kalla Kalla Kalla in den Sturm" hallt es durchs Stadion, und ich
stelle mir vor, wie Dirk in München, Krüger in der Karibik, Thommy
in Berlin und Gerd während eines schwierigen Zuges kurz vor Erleichterung
die Arme in die Lüfte heben.
"Kalla in den Sturm - Kalla in den Sturm - Kalla Kalla Kalla in den Sturm"
Halbzeitstand 2:0. Es ist
erstaunlich luftig in der Kurve. Dicht an dicht stehen wir heute nicht.
Unterhaltungen. Über das Ultra-Plakat beim Einlaufen. "Besser nicht
dabei als mittendrin". Angst vor der zweiten Liga. Aber die Angst ist noch
nicht so groß, dass wir "Nie mehr zweite Liga" brüllen. Unterhaltungen.
Über Helmond Sport. Sam erzählt von einem geplanten Trip nach
Helmond, zu unserem absoluten Lieblingsspieler Anton Vriesde. Unterhaltungen.
Über die Halbzeitergebnisse. Kaiserslautern führt. Hmm... von
einem Abstiegsplatz kommen wir heute nicht runter.
Halbzeit zwei beginnt. Optimal.
Traumpass von Zwetschge Misimovic auf Lokvenc, und der netzt cooooool und
locker ein. 3:0. Wosz und Madsen vermisst keiner. Endlich hat Neururer
mal ein gutes Händchen bewiesen und wieder Glück gehabt mit seiner
Aufstellung. Jetzt brennt nichts mehr an, gewonnen, drei Punkte, 14 sinds
jetzt, bravo. "LOKVENC, LOKVENC, LOKVENC" schreien alle Bochumer mit voller
Kraft, dabei dürften es eigentlich nur die wenigsten rufen. Wie viele
wünschten sich den langen Lulatsch vor ein paar Wochen wieder zurück
in Kaiserslautern? Neururer zieht seine Linie gnadenlos durch. Wosz und
Madsen bleiben draußen, dafür bringt er drei ins Spiel, die
eigentlich lange abgeschrieben schienen. Gudjonsson, Tapalovic und ja sogar
Michael Bemben dürfen ein paar Minuten mitspielen. Für Edu hat
es nicht ganz gereicht. Das Spiel ist nach wie vor kein Fußballfest,
und zuweilen ganz schön holprig, aber harmlose Nürnberger haben
wir im Sack. Im Sack? Harmlos? Die haben ja noch Mintal. Der macht - wieder
aus dem Nichts - in Minute 62 mit einem stinknormalen Kopfball sein zwölftes
Saisontor zum 1:3, und danach bleibt nichts mehr souverän. Jetzt wirds
ein Abstiegskampf, mit anrennenden, aber kopflosen Nürnbergern, einigen
nicht sehr schönen Fouls (zum Beispiel von Aidoo an Trojan, was statt
der dringend fälligen Roten Karte nur Gelb für Aidoo nach sich
zieht), lauten Pfiffen (vor allem gegen Aidoo), lauteren Anfeuerungsrufen
(V-F-L, Weeen lieben wir? V-F-L!!), und noch ein paar Chancen. Bechmann
vergibt einen Konter freistehend. Für den FCN scheitert Aidoo an van
Duijnhoven und Hajto an der Latte. Es bleibt beim 3:1, und wir alle klatschen
uns ab. Die nicht selbstverständliche Pflicht erfüllt. Lob für
Neururer. Aber: Es ist noch nichts gewonnen. Trotzdem wissen wir noch alle,
wie die La-Ola-Welle mit den Spielern funktioniert. Unser Trainer kommt
erst ganz spät zum Winkewinke, und getanzt wird heute nicht. Bravo.
So toll wars nicht. Nächste Woche gehts ab nach Stuttgart. Und wisst
Ihr was? Ich fahr doch hin. Ich kann nun mal nicht anders.
Auf dem Weg zurück
nach Mülheim klingelt mein Handy. Eine sms.
"Sag ich doch".
"Nenn mir einen Grund... einen einzigen verdammten Grund..." Weihnachtstour mit den Beschepptesten der Bescheppten
... but I get up again
... das Stuttgarter Schloss im Zentrum des Zentrums
Ganz ruhig strecke ich meine
Beine aus. Es knackt ein wenig, und es ist, ja doch, ein angenehmes Gefühl.
Zuerst knipse ich mein linkes Auge auf, dann mein rechtes; oh Himmel, wo
bin ich? Ganz ruhig strecke ich meine Arme aus; es knackt ein wenig, und
es ist, ja doch auch, wieder ein angenehmes Gefühl. Langsam wusele
ich mich aus dem Schlafsack meines Bruders, tapere zum Fenster, und blicke
in den Morgennebel Triers. Was ist wohl hinter den Schwaden? Hinter den
Bäumen, die Anfang Dezember ihre Blätter längst verloren
haben? Gibt es hier überhaupt Menschen? Ich höre nichts. Und
bin doch nicht taub. Mir wird kalt, ich schau mich um, meine Klamotten
liegen auf dem Boden verstreut, ich muss mal. Im Bad steht schon Bruder
Thommy, komplett angekleidet, mit Brille auf der Nase, mit Zahnbürste
im
Mund. Es riecht nach Dentagard. "Nenn mir einen Grund", sage ich mit der
Stimme eines gerade Aufgestandenen, "einen einzigen verdammten Grund, warum
ich heute nach Stuttgart fahren sollte." Dann noch eine Pause. Thommy schrubbt
weiter. Von oben nach unten. Von links nach rechts. "Ich weiß keinen",
füge ich an. Thommy grinst. Trier erwacht. Aber nicht rund um die
Peter-Friedhofen-Straße. Da geht kein Mensch über die Straße.
Seit gestern Abend verweile
ich in Trier, genau wie vor zwei Wochen, genau wie vor dem Spiel
in Mainz. Es ist Anfang Dezember, überall sind Weihnachtsmärkte
geöffnet, doch Thommy und ich verbringen unsere Zeit in einem tollen
Restaurant namens "Pomm und Toffel" und verbraten unser Nikolaus-Familiengeld.
Es gibt rational keinen Grund, warum ich diese anderthalbtägige Tour
auf mich nehmen sollte. Es ist komplett sinnlos. Das ist eine Auswärtsfahrt,
die nur die Beschepptesten der Bescheppten auf sich nehmen. Ich mag die
vielen Fakten gar nicht aufzuzählen. Die letzten vier Auswärtsspiele
haben wir mehr oder weniger desaströs verloren, haben dabei dreimal
in Folge überhaupt gar kein Tor erzielt. Dazu fehlen noch unser bester
Mann (Torwart van Duijnhoven) und unser bester Torschütze (Lokvenc).
Die sms bekam ich kurz vor Trier Hauptbahnhof, im Regionalexpress, und
eigentlich hätte ich gestern Abend direkt wieder kehrt machen sollen.
Naja, und dann wäre noch der Gegner. Stuttgart. Von acht Pflichtspielen
zu Hause haben die ja nur sieben gewonnen. Im Ligapokal haben wir uns ein
0:3 abgeholt. Tabellenplatz 3 gegen 16. Keinen Grund. Wir haben schon so
gut wie verloren. Ein Sieg des VfL in diesem Spiel ist so unwahrscheinlich
wie die Tatsache, dass ich innerhalb der nächsten zwei Wochen heiraten
werde.
"Guten Morgen", sagt Thommy,
nachdem er den Dentagard-Schaum aus dem Mund in den Spülstein gespuckt
hat. Ich fege mir ein paar Körner Schokomüsli zwischen die Kiefer
und lasse mich von Thommy zum Bahnhof kutschieren. Um 9 Uhr, als ich die
Regionalbahn Richtung Saarbrücken betrete, ist der Bochumer Sonderzug
der Marke "BOZ-Fanexpress" schon fast ne Stunde auf den Schienen. Mit in
diesem Zug sitzt auch Moritz, ein Jugendfußballspieler aus Mülheim,
den ich am Mittwoch als "Star der Woche" porträtieren musste. Als
mir die Fragen ausgingen, befragte ich ihn nach seinem bevorzugten Bundesligaklub.
"Ey, ich hab ne Dauerkarte beim VfL Bochum", sagte er mir, und sofort bekam
die Geschichte einen sympathischen Touch. "Und außerdem fahre ich
Samstag nach Stuttgart", fügte er hinzu. Der Vorspann für den
Text war damit schon geboren, aber insgesamt wurde er nur durchschnittlich.
Naja, da meine VfL-Leidenschaft bekannt ist, könnte mir sonst jemand
Parteilichkeit vorwerfen. Moritz sitzt im BOZ. Und ich hier. Vor mir hockt
eine junge Mutter (klingt wie 15) mit ihrer Tochter (klingt wie 6, hmm...
irgendwas passt hier nicht), und die beiden nerven mich schon nach einer
Fahrminute mit irgendsoeinem dämlichen Geschwätz. Es ist eine
mir völlig unbekannte Strecke; nicht am Rhein entlang, nicht an der
Mosel, nee, sondern an der Saar. Nicht schlecht. Auch die Wälder des
Saarlands versinken im Morgennebel, der wie der Rauch einer Nebelmaschine
über die Baumwipfel zieht. Der Schaffner kommt. Ich zücke mein
Online-Ticket, das ich zu Hause selbst ausgedruckt habe. Darauf aufgedruckt
ist eine Buchungsnummer, der eben der Schaffner in ein mobiles Ticketgerät
eintippen müsste. "Törminell han mer nett", sagt er mir und weißt
mich darauf hin, dass ich meine Schuhe gefälligst auf dem Boden und
nicht auf den gegenüberliegenden Sitzbänken abstellen solle.
"Losse mer ma unner, nä!?" Der Zug hält in solch wunderlichen
Orten wie "Karthaus" (Betonung auf "ha" legen) und "Schoden-Ockfen". Die
Haltestelle liegt direkt an der Hauptstraße, nur ein pisseliges,
kleines Häuschen steht am Mini-Bahnsteig, und das Dörfchen (mit
schätzungsweise zehn Einwohnern) ist noch einen Kilometer entfernt.
Merzig, ich betone Merzig, ist da fast schon eine Metropole und wird gleich
an zwei verschiedenen Punkten angesteuert. Hier steigen Pia-Ria und ihre
Mami aus. Endlich. Gestern Euskirchen (oder wie der Rheinländer sagt
"Euskirschen"), Kall und Jünkerath, heute Serrig, Saarhölzbach
und Besseringen. Opa hatte gestern Geburtstag. Heute feiert er. Ich verschlinge
das Doppel-Porträt von Andreas Baader und Horst Herold. Muss mich
wachhalten an diesem Vormittag.
Und steige in Saarbrücken
um. Halb elf. Der Weihnachtsmarkt hat grad erst geöffnet, eine Tanne
wirkt in der Fußgängerzone etwas deplatziert, doch weiter als
hundert Meter komme ich nicht vorwärts. Der Fahrplan und die Verspätung
der Regionalbahn zwingen mich zum Gleis zurück. Mir ist nicht nach
Musik. Noch nicht. Herold ist grad Polizeipräsident von Nürnberg,
Baader klaut Motorräder in München. Umsteigen in Mannheim. Ohne
großartigen Aufenthalt. Beweisfoto vom Bahnhofsschild. Und weiter
gehts. Im letzten ICE geselle ich mich in einem Abteil zu einem etwas sonderbaren
Pärchen. Sie ist Mitte vierzig und hat eine unglaubliche Geschmacksverirrung
in Sachen Klamotten. Keine Farbe passt zu keinem Kleidungsstück. Grün.
Blau. Rot. Und zum Stoff erst recht nicht. Cord. Jeans. Irgendwas. Und
all das so wenig, dass es schon wieder eine Kunst ist. Ihre Haare sind
schwarzgrau und hinten zum Zopf zusammengebunden. Er, auch Mitte vierzig,
hat einen Bauch wie Reiner Calmund, liest die Bild und die Neuigkeiten
von Corinna und Ralf Schumi II und trägt Bart und Frisur wie Vader
Abraham. Beide sind mutmaßlich auf dem Weg nach München, zu
einem Wochenend-Ausflug, und wollen nach Dachau. Ins KZ. Sie schwäbeln
total, und das macht diese 37 Minuten bis Stuttgart noch bizarrer als ohnehin
schon.
Dreimal schüttelte
ich den Kopf, als ich in Stuttgart aussteige, an einer Dampflok vorbeimarschiere,
die den Eisenbahn-Nostalgiker in mir hervorruft. Ich verstaue meine Tasche
unter größter Mühe in einem Schließfach, nicht ohne
mich vorher mit Schal, VfL-Mütze und Digitalkamera ausgestattet zu
haben. Der BOZ ist schon seit fast ner Stunde hier, aber kein Bochumer
am Bahnhof. Die kippen sich bestimmt alle grad auf dem Weihnachtsmarkt
mit Glühwein den Rachen heiß und vernebeln im schwäbischen
Winternebel ihre Sinne und Gedanken. Recht so. Angesichts dieser Ausgangslage
ist es ihnen nicht zu verdenken. "Bist Du in Benztown? Mein Tipp 1:1",
schickt Dirk aus München per Kurznachricht auf mein Mobiltelefon.
Gern hätte ich ihn heute eingeladen, schließlich ist es von
München bis Stuttgart nicht ganz so weit, aber er sagte ab. Leider.
Mein Rundgang durch die Innenstadt der selbst ernannten schwäbischen
Metropole führt zum Schloss, dem Zentrum des Zentrums. In der Fußgängerzone
auf der Königstraße reiht sich eine Weihnachtsmarktbude neben
die nächste. Vor Peek und Cloppenburg stehen zwei Jugendliche, halten
Pelze in der Hand und demonstrieren gegen die Ermordung von Tieren aus
Gründen des aktuellen Modebewusstseins. "Blutige Weihnachten bei Peek
und Cloppenburg", brüllen sie. Kaum einer hält an. Die Polizei
ist überaus zahlreich präsent. Zweimal sehe ich auf meinem kurzen
Gang, wie Polizisten zur Personenkontrolle bitten - zweimal bei türkisch
aussehenden Menschen. Was das für einen Eindruck bei den schwäbischen
Rentnern auslöst, brauche ich wohl nicht zu beschreiben. Vor mir spazieren
ein paar Jungs im VfB-Trikot, und diskutierren über Bochumer, die
sich scheinbar nichts ganz sauber benommen haben: "Was will man von Leuten
erwarten, die von Rot-Grün regiert werden." Der Spruch ist so daneben,
dass er glatt auf diese Homepage gehört. Der schwäbische Dialekt
macht mich fertig. Wieder. Wie schon vor fast punktgenau zwei
Jahren. "Gehscht bitte a Stückle zur Seide", fragt jemand, der
an mir vorbeilaufen möchte. Brrrraaaaahhhhh... Ich rufe Helmut, den
MSV-Fan an. "Nenn mir einen Grund", sage ich mit der Stimme eines in der
Realität Angekommenen, "einen einzigen verdammten Grund, warum ich
heute nach Stuttgart fahren sollte." Er hat für diese Feststellung
nur ein müdes Lächeln übrig. An der Eislaufbahn, direkt
vor dem Stuttgarter Schloss, erlebe ich meine letzte ruhige Minute für
ein paar Stunden. Sie hat die Romantik von "Schlaflos in Seattle", wie
Väter oder Mütter mit ihren kleinen Kindern immer wieder auf
den Arsch plumpsen, und das bei Kuschelrock-Weihnachtsmusik. "Last christmas
I gave you my heart".
Mit der U-Bahn fahre ich
zum Gottlieb-Daimler-Stadion. Es dauert endlos lange, fast 20 Minuten.
Nur die Fahrt vom Gelsenkirchener Hauptbahnhof bis zur Arena ist schlimmer.
"Wart ab", sagte ich zu Helmut, der die Premiere-Konferenz einschalten
wird, "in der 5. Minute hörst du das erste Mal TOR IN STUTTGART. Und
dann werde nicht ich jubeln." Warum bin ich hier? Es ergibt nicht den geringsten
Sinn, warum ich das Geld dafür auf den Kopf gehauen habe. Ich hätte
CDs kaufen können, Bücher, fast ein Dutzend Mal Lasagne bei Nudelland
(mit Cola). Der Gästeblock liegt nun woanders. Es ist kein Käfig
mehr, wie noch vor zwei Jahren, und - oh Wunder - wir haben sogar einen
Blick auf die Anzeigetafel, aber - so ists nun einmal - das Gottlieb-Daimler-Stadion
wird wohl langfristig das fußballfeindlichste Stadion der Liga bleiben.
Es hat eine Laufbahn und neulich hat der Stuttgarter Stadtrat zum wiederholten
Male beschlossen, dem VfB einen Neubau zu verwehren. Die Gästekurve
besteht nicht aus Stehplätzen, sondern aus hochklappbaren Sitzen,
dem Tod einer jeden Brüllkultur. Wir Bochumer beweisen, dass wir zuweilen
eine höchst heterogene Gruppe sind und verteilen uns in alle Ecken.
Als die Jungs zum Warmlaufen reinkommen, gibt es fast gar keinen Applaus.
Nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil ihn keiner beginnt. Und hey? Wo sind
eigentlich die Ultras? Langsam füllt sich das Stadion, und den ersten
ziemlich lauten Lachkick erlebe ich, als das krokodilähnliche Maskottchen
"Fritzle", wirklich die lächerlichste Figur der Bundesliga, den Rasen
betritt. Und bei uns mag ichs kaum glauben. Erstmals seit dem Lüttich-Desaster
trägt der "Ich schlage gerne über den Ball" Edu ein Trikot. Der
spielt doch nicht? Diese Nachricht teile ich per Handy sofort Thommy und
dem Rest meiner VfL-Freunde mit, und kaum einer hat dafür auch nur
einen Ansatz von Verständnis. "Edu spielt... ich glaub, ich komm nach
Hause, dann kann ich noch mit Euch ins Kino gehen", bekommen Helmut und
seine Freundin Tina von mir zu hören. Noch ein Zeichen, dass unser
Trainer das Spiel schon längst drangegeben hat. Auch Preuß spielt
nicht. Verletzt. Auch das noch.
Die Ultras kommen nicht
und kommen nicht. Haben wahrscheinlich kein Geld gehabt, oder was weiß
ich. Hoffnungslos? 4. Minute, Ecke für Stuttgart, Tor. "TOR IN STUTTGART",
tönt´s in der Konferenz, und Helmut bricht bestimmt in schallendes
Gelächter aus. Noch NICHTS ist passiert im Spiel, NICHTS, und auch
diese Szene ist NICHTS. Kalla hat ihn leider nur in unseren eigenen Kasten
geköpft. 0:1. Wenn du unten stehst, geht alles schief, dann patzen
selbst die beständigsten, besten Feldspieler, dann liegst du sowas
von unglücklich sowas von schnell hinten. Das war´s eigentlich.
Dabei sind die Ideen von Neururer doch gar nicht so schlecht. Brabbelnd
von der immer mehr einsetzenden Kälte notiere ich auf meinem Gehirn-Notizblock
mit meinem Phantasie-Kuli die Taktik. Edu spielt tatsächlich Stürmer
(na klar, wenn er da über den Ball tritt, ist es nicht ganz so schlimm),
und das neben Madsen. Dahinter kommen mit Bechmann (rechts), Misimovic
(zentral) und Trojan (links) gleich drei offensive Mittelfeldspieler. Maltritz
kümmert sich als Abräumer ganz liebevoll um Hleb. Dahinter steht
nur noch unsere Viererkette mit Vander. Erstaunlich offensiv ist das Ganze,
aber leider auch wenig eingespielt. Das Bälleken läuft zwar im
Vergleich zu Hannover und Mainz ab und zu ganz anständig, aber wenn
Hleb nach seinem Solo nicht gestolpert, und Cacau bei seinem 25-Meter-Knaller
genauer gewesen wären - das Ergebnis wäre schon ziemlich früh
in empirestatebuildingähnliche Höhen gegangen. So bleibt es Kuranyi
vorbehalten, einen schlimmen, schlimmen Patzer von Kalla zum 2:0 auszunutzen.
"Hat der Kalla gestern gesoffen oder was?", fragt Helmut süffisant
per sms. Es ist so sinnlos, dass ich hier bin. Na vielleicht sehe ich ja
einen Rekord. Meine höchste Niederlage. Nach 26 Minuten stürmen
die Ultras den Block. Standen wohl wirklich im Stau. Verpasst haben sie
alles. Da passiert nicht mehr viel. In den restlichen 64 Minuten schwenken
die 50 mitgereisten Ultras 20 Fahnen. Na gut, nicht so viele, lasst es
acht sein. Aber das so penetrant, dass es nervt und dass kein anderer Bochumer
irgendwas sieht. So macht Ihr Euch keine Freunde, Freunde! Die Stimmung
wird wieder explosiver. Fans sind sauer auf die Ultras, die Ultras wollen,
dass sich mehr Leute an den Sprechchören beteiligen, und die Mannschaft
und Neururer sind sowieso schuld. Kurz vor dem 0:2 hat Bönig volle
Möhre den Ball auf die Zwölf bekommen. Doch statt der sofortigen
Auswechslung gegen Meichelbeck ließ Neururer ihn auf dem Platz. Gut,
am 0:2 war Bönig nicht beteiligt - aber vielleicht hätte Meichelbeck
für den gehirnerschütterten Bönig eine sinnvollere Idee
gehabt. Schwamm drüber, denn hoppla. Wo holen unsere Jungs die Motivation
her? Sie raffen, dass sie nur durch zwei blöde individuelle Fehler
zurückliegen, sehen die Schwächen von Stuttgart bei Standards
und schlagen zurück. Sie greifen an, hurra, wir können das. Knavs
legt nach einer Ecke ab auf Edu, und TOOOR! 1:2. Das Tor ist so unwahrscheinlich,
so krank, so total irrsinnig. Halbzeit. Die Anzeigetafel geht mir auf den
Sack. Auch während des Spiels leuchtet alle 15 Sekunden eine andere
Anzeige auf, das ist die totale Berieselung und hat mit Fußball nichts
mehr zu tun. Werbung wird für die "Maschterkaaard" gemacht, klingt
echt bescheuert. Hinter mir findet jemand den Dialekt süß. Süß
finde ich nur Crepes mit Marzipan. Die sind aber richtig süß.
Zweite Halbzeit, Kopfball
Maltritz 2:2. Und wisst ihr was? In Minute 60 ist das nicht unverdient.
Unsere kämpfen, grätschen, wollen, laufen - und jaaaaaa... dann
muss ich mir wohl ne Frau suchen, die ich innerhalb der nächsten 14
Tage heiraten muss. Unmittelbar vor dem 2:2 ist Neururer mutig geworden;
hat Wosz für Colding gebracht, und die Vierer- in eine Dreierkette
umgewandelt. Nur Minuten später geht das Kommando zurück. Bemben
kommt für Trojan und komplettiert die Viererkette. Das verwirrt unsere
dann vollends, und es wird das befürchtete Debakel. Der Rest fliegt
im Zeitraffer vorbei. Hleb, 70. Minute, 3:2. Kein unhaltbarer Schuss, der
Rein hätte ihn gehabt. Meißner, 77. Minute, 4:2. Kuranyi, 82.
Minute, 5:2. Ich will nicht mehr hinsehen. Wenigstens sind noch zwei andere
Fangruppen ärmer dran als wir. Freiburg und Gladbach gehen 0:6 unter.
Wir haben uns immerhin gewehrt.
Doch gewehrt. Was bedeutet
das schon. Pfiffe gibt es nur wenige. Die paar Spieler, die sich trotz
Frustration noch in die Kurve trauen, bekommen sogar ein wenig Beifall,
und dürfen ihre Trikots ohne Gegenwehr in die Menge schleudern. Es
war auswärts schon schlimmer. Ja, und ich sage das trotz eines Debakels
von 2:5. Trotz eines unglaublichen Fünferpacks. Den Ort des Schreckens,
das schreckliche Daimler-Stadion verlasse ich blitzartig, stelle fest,
dass es mit der S-Bahn viel schneller bis zum Bahnhof geht, bestelle bei
"Chinatown" einmal Hähnchen süß-sauer und besteige den
ICE von Stuttgart nach Köln. Was mit einem so langen Vorläufer,
mit einem Abend im Pomm und Toffel, mit einem zähneputzenden Bruder,
mit der Tanne in Saarbrücken und der Eislaufbahn des Stuttgarter Weihnachtsmarktes
begann, endet in Windeseile. Über das 2:5, das erste, das ich in meiner
VfL-Karriere sah, lege ich die "Jacke des Traums". Eine Jacke, die hätte
ich besser mitnehmen sollen. Am Ende warens fast Erfrierungen, die meinen
Körper zierten. Das Buch über Baader und Herold beende ich auf
dem Weg von Baaders Todesort Stuttgart zu Herolds Wohnort Wiesbaden; mittlerweile
singen Kettcar, deren zweite CD ich dringendst erwarte, "Lass mich wissen,
was anders wird, wohin es führt / wie viel es bedeutet, was hier passiert
/ wie lange es dauert bis die Milch sauer ist / wie viel man behält
und wie viel man vergisst". Jetzt habe ich Bock auf Musik.
"I get knocked down, but
I get up again." Diesen Tipp gibt mir mein Walkman schon auf dem Weg von
Köln nach Mülheim. Noch einmal stelle ich mir eine Frage. "Nenn
mir einen Grund... einen einzigen verdammten Grund". Aber diesmal geht
der Satz anders zu Ende.
"Einen einzigen Grund, warum
wir in der Liga bleiben könnten."
Hoffentlich bleibe ich nicht
mehr lange so sprachlos zurück.
Im Stadion
Lasst mich den Themenkomplex "Bundesliga-Klo's" aus dem Mainz-Spiel fortsetzen: Die "stillen" Örtchen in Stuttgart luden nicht wirklich ein... | Warum bin ich hier? Was soll das überhaupt? Wir haben doch sowieso keine Chance! - die Gedankenwelt des Andi E. um 15.28 Uhr. | ... und so sieht das Ganze ein bisschen näher rangezoomt aus. Unser Kapitän heißt heute Colding. |
Mit genau 26 Minuten Verspätung zogen die "Ultras" ein. Stau? Jedenfalls stand es schon 0:2. | Soviel zum Thema "blau-weiße Fahnen wehen...". Leider wehten sie allzu häufig, und in etwa 40 der 64 Minuten mit den Ultras sah ich - nicht so viel. Nicht, dass ich mich beschwert hätte! | Und irgendwie konnten wir es alle nicht glauben, als Marcel Maltritz das 2:2 erzielte! |
Um 17.16 Uhr schaute ich nicht ganz so gut gelaunt auf die Anzeigetafel... | Und dann das: Ultras, Fans und "Trikotgeile" hüpfen kurz vor dem Abpfiff auf den Zaun! | Die Pfiffe waren diesmal - ehrlich!! - nicht ganz so laut. Und ein paar Jungs haben ihre Trikots sogar in den Zaun geschmissen. |
Stuttgart
Die
Stuttgarter Fußgängerzone - namens "Königstraße"...
ganz schön ausverkauft am Samstag!
Die Fahrten
HINFAHRT Mülheim
(14.16 Uhr) bis Trier (18.09 Uhr)
Regionalexpress (14.16
Uhr bis 15.11 Uhr)
Mülheim Hbf, Duisburg
Hbf, Düsseldorf Flughafen, Düsseldorf Hbf, Düsseldorf-Benrath,
Leverkusen Mitte, Köln-Mülheim, Köln-Deutz/Messe, Köln
Hbf
Regionalexpress (15.21
Uhr bis 18.09 Uhr)
Köln Hbf, Köln
West, Köln Süd, Erftstadt, Weilerswist, Euskirchen, Kall, Nettersheim,
Blankenheim (Wald), Jünkerath, Gerolstein, Kyllburg, Bitburg-Erdorf,
Kordel, Trier Hbf
ZWISCHENFAHRT Trier (9.01
Uhr) bis Stuttgart (13.08 Uhr)
Regionalbahn (9.01 Uhr
bis 10.27 Uhr)
Trier Hbf, Trier Süd,
Karthaus, Konz, Kanzem, Wiltingen (Saar), Schoden-Ockfen, Saarburg (Bz
Trier), Serrig, Taben, Saarhölzbach, Mettlach, Besseringen, Merzig
(Saar) Stadtmitte, Merzig (Saar), Fremersdorf, Beckingen (Saar), Dillingen
(Saar), Saarlouis Hbf, Ensdorf (Saar), Bous (Saar), Völklingen, Luisenthal
(Saar), Saarbrücken-Burbach, Saarbrücken Hbf
ICE (10.45 Uhr bis 12.09
Uhr)
Saarbrücken Hbf, Homburg
(Saar) Hbf, Kaiserslautern Hbf, Neustadt (Weinstraße) Hbf, Mannheim
Hbf
ICE (12.31 Uhr bis 13.08
Uhr)
Mannheim Hbf, Stuttgart
Hbf
RÜCKFAHRT Stuttgart
(18.37 Uhr) bis Mülheim (22.45 Uhr)
ICE (18.37 Uhr bis 21.34
Uhr)
Stuttgart Hbf, Vaihingen
(Enz), Heidelberg Hbf, Mannheim Hbf, Mainz Hbf, Wiesbaden Hbf, Limburg
Süd, Montabaur, Köln Hbf
Regionalexpress (21.51
Uhr bis 22.45 Uhr)
Köln Hbf, Köln-Deutz/Messe,
Köln-Mülheim, Leverkusen Mitte, Düsseldorf-Benrath, Düsseldorf
Hbf, Düsseldorf Flughafen, Duisburg Hbf, Mülheim Hbf
Hilflose Hoffnungslosigkeit - Andi´s weniger lustige, sondern mehr trostlose Weihnachtsgeschichte 2004
"Wir schaffen es gemeinsam" - das ist mein größter Weihnachtswunsch
Und zwischendurch UEFA-Cup
Hinten, an der Wand des Hochhauses
der Bochumer Sparkasse hängen Tausende von kleinen Lichtlein. Irgendwas
mit "wünscht frohe Festtage" steht darauf. Vor mir auf der Huestraße
lungern Familien, Fußballfans, Glückliche und Traurige rund
um die Büdchen des Weihnachtsmarkts in der Innenstadt. Gerd, seine
Frau und seine Schwiegereltern zieht es in ein Restaurant, zwei Kinderpünsche
und ich spazieren Richtung Hauptbahnhof. Richtung Regionalexpress. Spaziergang
an Tannenbäumen vorbei Richtung Winterpause. Richtung Weihnachten.
Frohes Fest.
Irgendwie beginnt oder endet
es in letzter Zeit immer mit dem HSV. Im Aufstiegsjahr war das HSV-Spiel
am vorletzten Spieltag, im letzten Jahr direkt am zweiten und nun sogar
am allerletzten. Lasst mal hochrechnen... gehen wir mal davon aus, dass
wir bis zum allerletzten Spieltag gegen den Abstieg kämpfen müssen
- hui, dann gibt es gewiss leichtere Spiele als in Hamburg. Na Schwamm
drüber. Wenn die Winterpause naht, dann naht Weihnachten. Wenn Weihnachten
naht, dann nahen Ferien. Wenn Ferien nahen, dann ist die Alltagsmotivation
noch geringer als ohnehin schon. Mensch, was für eine anstrengende
Woche liegt hinter mir, und ich freue mich schon seit Tagen auf dieses
verdammte Spiel. Ein letztes Mal 2004 zum VfL, abends noch lecker in die
Matrix nach Bochum, richtig abfeiern.
Sofort nach dem Abspann
von "Kill Bill 2", sofort nach Anwendung der Fünf-Punkte-Pressur-Herzexplosions-Technik,
bin ich gestern Abend pennen gegangen, mit einem leichten Gefühl der
zufriedenen Aggressivität in der Magengegend. Naja, geholfen hats
nix. Vollkommen verschlafen klappe ich gegen elf meine Augen auf, um dann
den Wecker gleich auf zwölf weiterzustellen. Um zwölf zieht mir
immer noch keiner die Decke weg. Warten bis halb eins. Eins. Na gut, dann
wird das wohl nix mit meiner ursprünglichen Bahn. 13.46 Uhr klappt
nie. Aufstehen, pissen gehen, Müsli rein ins Gesicht, Internet. Ich
suche mir einen ICE raus, zur Feier des Tages. 6,40 Euro kostet der Spaß,
nur um 15 Minuten eher da zu sein. Ich ziehe mir ein T-Shirt, noch ein
T-Shirt, das Kalla-Trikot, eine Strickjacke, den VfL-Schal und die VfL-Mütze
an, das muss reichen. Schnell noch die Digikamera eingepackt, das Handy
dazu... oh Handy, könnte ich glatt mal einschalten. Bieeeeppppbieeeppp...
sms... von André, einem der Matrix-Kollegen. Er hat Rückenprobleme.
Und cancelt den Abend. Das fängt ja gut an. Verschlafen. Keine Matrix.
Der Kill-Bill-Thrill ist längst verflogen, die nackte Abstiegsangst
regiert wieder. Meine "Heute verlassen wir Platz-16-Stimmung" ist wieder
glatt der "Heute wächst der Rückstand noch mehr an"-Laune gewichen.
Im Zug lese ich die Stadionzeitung. Ob Meinhold oder Neururer. Durchhalteparolen.
Wir schaffen das schon. Wie immer.
Der Bochumer Hauptbahnhof
ist von Mal zu Mal eine größere Baustelle. Auf dem Hinweg passiert
nichts Spektakuläres, wobei das eigentlich schon wieder spektakulär
ist. Keiner quatscht mich an, keiner kennt mich von irgendwoher, keiner
reißt den absolut nervenden "Die Fahrkarten bitte"-Gag in der überfüllten
U-Bahn vom Hauptbahnhof zum Stadion. In der Kurve trudeln die üblichen
Gesichter erst sukzessive ein, aber wenigstens trudeln sie ein. Nach einer
Zwangspause von zwei Heimspielen kehrt Gerd endlich wieder in den Schoß
der Ostkurve zurück - und Sam bringt seine reizende Frau mit. Nur
auf Krüger warten wir - zum dritten Mal hintereinander - vergeblich.
Ist der im Rahmen seiner Aida-Reise in Domrep hängen geblieben?? Die
Spieler laufen sich warm. Van Duijnhoven ist doch dabei... puuh... hatte
schon befürchtet, unser Amateurschnapper Keser müsste ran, da
unser Rein eigentlich bei jedem Schritt vor Schmerzen schreien müsste.
Aber lieber ein halber Rein als ein ganzer Keser... Es zieht sich alles,
es ist so "normal". Ich versinke in Gedanken. Womöglich liegt das
an der Mütze, die sich viel zu eng kondomartig über meinen viel
zu dicken Kopf gestülpt hat. Schweife von Thema zu Thema, von Monat
zu Monat. An die Unterhaltungen um mich herum verschwende ich nur ein Viertel
meines Gehirnvolumens. Habe ich zu viel Fußball gesehen in diesem
Jahr? Fast 90 Spiele waren´s, ob beruflich oder privat live vor Ort.
die unzähligen im Fernsehen nicht mitgezählt. Das eine noch,
heute, das kriegst du noch rum, und noch mit drei Punkten. Sie wären
so verdammt wichtig. In den letzten Tagen nervte Helmut, der MSV-Fan, tierisch.
Hach wie gerne hätte ich wieder die Euphorie, die er jetzt hat, diese
überschwängliche Laune der letzten drei Jahre. Jetzt ists nur
noch die bittere Pflicht des Abstiegskampfs. Ich bin einfach reif für
die Winterpause. Zu wenig Spaß gemacht hats an den letzten Samstagen.
Ich schüttle mich zweimal,
komme zu mir, frage meine Nebenmänner, worüber sie in den Minuten
zuvor geredet haben und blicke mich um im Stadion. 25.990 sind noch einmal
da. Eine erstaunliche Zahl angesichts des Wetters, des Gegners und der
Tabellensituation. Der HSV ist auch nicht gerade der Megaknaller in diesem
Jahr. Wievielter sind die? Achter? Neunter? Die Spieler halten nach dem
Einlaufen und der "Carmina Burana" ("Hells Bells" würde mir immer
noch besser gefallen, obwohl das nachgeäfft wäre) gemeinsam ein
Plakat in die Lüfte. "Da steht bestimmt ,Frohe Ostern' drauf", unkt
jemand links neben mir. Aber sie haben doch das richtige erwischt. "Wir
schaffen es gemeinsam", sagen uns die Jungs, und die Botschaft kommt an.
Riesen-Beifall. V-F-L. V-F-L. Unser Trainer hat zum wiederholten Mal alles
durcheinander gewirbelt. Eine Stammformation gibt es wirklich nicht mehr.
Diesmal verstehe ich gar nichts. Er schenkt den Versagern der ersten zehn
Spiele sein Vertrauen. Zdebel und Wosz kommen für Trojan und Misimovic.
Zwetschge muss nach guten Spielen auf die Bank. Warum?? Anpfiff. Nichts
passiert. Das teile ich nach bereits 25 gespielten Minuten auch Gerd mit,
und der nickt. Fast keine Torschüsse, wenig Bewegung, viele Fehlpässe,
hui, ist das schlecht. Dann ein Foul. Ein Freistoß von Paule Beinlich,
ein Stellungsfehler von Kalla, ein Kopfball von Barbarez, ein Tor. Eine
Chance, ein Tor, so ist das mit unserem Glück im Moment. 0:1. Und
die Hamburger könnens selbst kaum glauben. Geschockt steht mein Mund
auf, ich kriege kein Wort raus, mein Herz bebt. Fast eine Explosion, und
das ohne die Fünf-Punkte-Pressur. Wenn ein Gegentor fällt, kommt
bei uns das nächste direkt hinterher. Wieder Freistoß Paule
Beinlich, dieselbe Distanz, zehn Minuten später, van Duijnhoven wehrt
zu kurz ab, Jarolim passt quer, und Benjamin vollstreckt. 0:2, acht Minuten
später. Das war´s. Das holen die niemals wieder auf. Wieder
eine Heimniederlage. 14 Punkte in der Hinrunde, katastrophal. Eine ganz
ganz miese Vorstellung. Dass die sich nicht schämen. "Wir hamm die
SCHNAUZE volll", hallt es aus Tausenden von Kehlen Richtung Rasen und ein
so lautes Pfeifkonzert zur Pause gab es noch nie in dieser Saison, nicht
mal im ganz miesen Rostock-Spiel.
Was ist passiert? Was ist in die Mannschaft gefahren? Die Viererkette mit
Colding, Kalla, Knavs und Bönig ist ein einziger Wackelpudding. Flexibilität
ist gefragt im modernen Fußball, Abwehrspieler müssen sich heutzutage
auch am Spielaufbau gescheit beteiligen. Das hat Bielefelds Rapolder heute
noch im taz-Interview gesagt. Und unsere? Ein guter Spielaufbau ist zu
viel verlangt. Im defensiven Mittelfeld tritt Maltritz mehr als er spielt,
und bleibt gelb-rot-gefährdet zur Pause in der Kabine. Zdebel sowie
in der Offensive Madsen und Wosz sind nicht vorhanden. Bleiben der unglückliche
Lokvenc und Bechmann, unser Bester. 0:2. Die Stationettes kommen. Und tanzen.
Ein saublödes Halbzeitspiel kann die Zeit nicht mal ansatzweise vertreiben.
Vom Mittelpunkt schießen drei VfL-Fans erbärmlich neben das
Tor. Symptomatisch. "Also die Spieler hätten das auch nicht besser
gemacht", sagt Gerd. Galgenhumor. So weit ist es schon.
Zweite Halbeit. Edu für
Maltritz. Sein erster Auftritt seit Lüttich. Die Reaktion ist neutral.
Zu gleichgültig ist es angesichts des hoffnungslosen Spielstands.
Dabei spielen die Hamburger nicht mal gut. Wie schon die Stuttgarter vor
einer Woche wären die zu packen, aber scheinbar reichen zwei halbwegs
vernünftig ausgeführte Standards im Moment, um den VfL Bochum
zu bezwingen. Von Heimstärke keine Spur. Das Anfeuern wird leiser
und leiser. Und klappt bei mir nicht mal im Takt, was Sams Frau Nicole
und einen Fan links neben mir sehr belustigt. Gerd stellt fest, dass mich
das Ganze doch mehr mitnimmt, als ich zuzugeben wage. "Du murmelst ja nur
noch vor dich hin", werde ich gerügt. Zwetschge kommt für Bönig.
Vier Stürmer auf dem Platz. Zwei Offensive dahinter. Neururer versucht
alles. Und die Spieler versuchen auch alles. Sie kämpfen von Sekunde
zu Sekunde mehr, grätschen, laufen, strengen sich an, sie spielen
auf gar keinen Fall gegen den Trainer, und es sieht doch so hilflos aus.
Keiner brüllt mehr "Wir hamm die Schnauze voll" oder "Wir wolln Euch
kämpfen sehen". Das wäre ungerecht. Aber Hamburgs Abwehrchef
van Buyten ist dankbarer Abnehmer für jede Flanke, für jeden
Pass, für jede blind in den Strafraum gepölte Standardsituation.
Einmal kommt Bechmann durch - doch Pieckenhagen klärt. Einmal tritt
Edu im Strafraum über den Ball - Gekircher in der Kurve. Einmal schießt
Lokvenc drüber - ein Raunen geht durch die Menge. Die Hamburger lassen
sich aufreizend viel Zeit, und verspielen großartige Konterchancen
sehr leichtfertig. Ein typisches 2:0-Spiel ist es, denke ich gelangweilt
und frustriert, als Madsen den Pfosten trifft. Es geht alles schief, und
nach Minuten der Stille - selbst der Megafon-Mann hat seinen Ausguck schon
lange verlassen und sich mit Bier getröstet - gibt es einen letzten
Sprechchor, der sich wie ein Feuer in einem trockenen Wald verbreitet.
"WIR STEIGEN AUF!!! WIR STEIGEN AB!!! UND ZWISCHENDURCH UEFA-CUUUUP", brüllen
alle, lauter und lauter und lauter. Ein hilfloser Ausdruck unser Hoffnungslosigkeit,
unserer Gleichgültigkeit. Schade für die Mannschaft. Schade für
uns. Aber es wird uns wohl wieder erwischen. 83. Minute, Bechmanns Flatterball
geht irgendwie über die Linie, 1:2. Ein kurzes Aufbäumen, aber
es hilft nichts. Verloren.
Gerd und ich haben eine
neue Tradition eingeführt. Nach dem letzten Heimspiel im Kalenderjahr
gehen wir auf dem Bochumer Weihnachtsmarkt einen Glühwein oder (für
mich) Kinderpunsch trinken. In der U-Bahn bewundert Gerd eine nackte Frau
als Bild auf dem Handy eines 16-jährigen Schülers, wir planen
Auswärtstouren für die 2. Bundesliga im nächsten Jahr, um
dann vollkommen überheblich zwölf Punkte aus den ersten Spielen
im neuen Jahr gegen Berlin, Leverkusen, Bielefeld und Dortmund einzukalkulieren.
Wir sind uns einig, dass ein Trainerwechsel sinnlos wäre. Erstens
ist er zu teuer, zweitens kann im Moment auch kein anderer die Mannschaft
aus dem Keller lotsen. Im City-Grill beenden wir bei einer Currywurst das
Thema VfL für 2004. Sam und Nicole haben uns schon lange ein "Frohes
Fest" und einen "Guten Rutsch" gewünscht, sie zieht es zur einer Sparkasten-Auszahlung,
was Gerd einen saloppen Kommentar abringt. Ein Kinderpunsch. Noch einer.
Thema Urlaub. Peru. Mexiko. USA. Europa. Vietnam. Weite Welten. Weite Fernen.
Ferne Welten. Distanzen. Weg vom VfL. Es ist kalt geworden in Bochum. Mein
Atem verwandelt sich schon längst in eine weiße Wolke, und von
überall kommen Passanten auf mich zu und fragen: "Wie hat Bochum gespielt?"
Es ist die falsche Frage. Am falschen Ort. Zum falschen Zeitpunkt. Es tut
immer noch weh. Nach vier Abstiegen sollte ich eine Gelassenheit mitbringen
- aber nein, nicht mit dieser Mannschaft. Sie ist doch zu gut. Zu stark.
Das darf nicht sein. Von 21 Pflichtspielen haben wir vier gewonnen, nur
vier.
"Mensch, so ein Mistspiel",
meint jemand, der am Stand vorbeiläuft, als Gerd grad die nächste
Runde Heißgetränke besorgt. "Ich habs im Fernsehen angesehen."
Gerd kommt wieder, stellt zwei Tassen auf dem Plastiktisch ab. Ich ziehe
meine Mütze noch enger über meinen Kopf, vermisse meine Handschuhe.
Da hebt Gerd seinen Brustkorb an wie ein Meisterphilosoph und schwadroniert:
"Also in diesem Jahr, da haben wir alles mitgemacht. Alle erdenklichen
Höhen und Tiefen." Oh und wie recht er hat. Es geht ein Fußballjahr
zu Ende, das mit einem fantastischen 1:0
gegen Bayern München begann, mit einer ganz grandiosen UEFA-Cup-Einzugsparty
nach dem Hannover-Spiel seinen
Höhepunkt fand, um dann mit dem tragischsten
Gegentor meines Lebens und dem bitteren Abstiegskampf zu enden.
Hinten, an der Wand des
Hochhauses der Bochumer Sparkasse hängen Tausende von kleinen Lichtlein.
Irgendwas mit "wünscht frohe Festtage" steht darauf. Vor mir auf der
Huestraße lungern Familien, Fußballfans, Glückliche und
Traurige rund um die Büdchen des Weihnachtsmarkts in der Innenstadt.
Gerd, seine Frau und seine Schwiegereltern zieht es in ein Restaurant,
zwei Kinderpünsche und ich spazieren Richtung Hauptbahnhof. Richtung
Regionalexpress. Spaziergang an Tannenbäumen vorbei Richtung Winterpause.
Richtung Weihnachten. Frohes Fest.
Das Spiel
Der Weihnachtsmarkt
Ohne Worte. | Siehe Text. |
Familien, Betrunkene, VfL-Fans, Glückliche und Traurige schlendern über den Markt. | Tannenbäume säumen die Huestraße auf dem Weg Richtung Kortumstraße und Berrmuda-Dreieck. |
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